Gut mischen! Translanguaging und schulische Realität
Was haben die auf dem Französischen basierende Kreolsprache Morisyen und Kiezdeutsch in Berlin Kreuzberg miteinander zu tun? Antworten darauf und viele weitere spannende Fakten zu Sprach-Melangen in der Vergangenheit und Gegenwart finden Sie im Blog-Beitrag von Anna Gazdik.
Im 18. Jahrhundert eroberte Frankreich Mauritius. Von den nachfolgenden Kolonialherren, dem Vereinigten Königreich, erlangte die Insel 1968 ihre Unabhängigkeit. Die Mehrheit der Bevölkerung spricht aber immer noch Morisyen, eine auf dem Französischen basierende Kreolsprache, also ein vereinfachtes, kaum wiedererkennbares Französisch, das mit Elementen aus anderen Sprachen vermischt ist. Oder nicht? Das Französische hat bekanntlich ein komplexes Verbsystem, das im Morisyen in der Gegenwart auf zwei Formen reduziert wurde: eine lange und eine kurze Form. Was für ein Verlust an sprachlichem Reichtum! Linguisten haben jedoch etwas Spannendes herausgefunden: Der Wechsel zwischen langen und kurzen Formen geht auf das Bantu-Erbe der Sprache zurück und weist eine interessante Regelmäßigkeit auf: Die lange Form wird nur dann verwendet, wenn die Wahrheit des Satzes besonders betont oder verneint wird („Doch, ich habe es gegessen!“ oder „Nein, ich habe es nicht gegessen!“), und das wurde sogar auf das französische grammatische System übertragen!
Wir müssen aber weder zeitlich noch geographisch so weit ausholen, um ähnliche Entwicklungen dokumentieren zu können: Im Berliner Bezirk Kreuzberg ist Kiezdeutsch entstanden, ein neuer Dialekt, der sich in gemischten Gruppen von Jugendlichen deutscher und nichtdeutscher Herkunft entwickelt hat. Artikel und Präpositionen werden stark reduziert ("Lassma Viktoriapark gehen, Lan.") und „so“ wird zur Betonung verwendet: "Ich höre Alpa Gun, weil der so aus Schöneberg kommt." / "Ich hab meiner Mutter so Zunge rausgestreckt, so aus Spaß.“
Dass in Sprachkontaktsituationen Mischungen oder gar neue Sprachvarietäten, Dialekte und Sprachen mit eigenen Regeln entstehen, ist also nichts Neues. In einem sprachlich heterogenen Umfeld bauen Sprecherinnen und Sprecher komplexe sprachliche Repertoires auf, in denen die unterschiedlichen Sprachen nicht getrennt, sondern in einem Netzwerk vertreten sind. Das Sprechen in einer Sprache bedeutet nicht, die anderen auszuschalten: Klingt etwas auf Englisch cooler? Dann wird der deutsche Satz mit einem englischen Wort upgegraded – aber ganz klar mit deutschen Präfixen und Endungen. Gibt es im Deutschen ein sehr treffendes, einfaches Wort, das uns auf Ungarisch nicht sofort einfällt? Dann kommt es vor, dass man sagt: „Ez knapp volt! (Das war knapp!)“.
Dieses als Translanguaging bezeichnete Phänomen ist bei mehrsprachigen Menschen nicht nur üblich, sondern völlig selbstverständlich. Da sie nicht „mehrfach einsprachig“ sind und Teile ihres sprachlichen Repertoires nicht immer ausschalten können, ist es verständlich, dass sie Kontexte, in denen Einsprachigkeit die Norm ist, z.B. monolinguale Schulen, als Herausforderung empfinden. Hier kommt die Translanguaging-Pädagogik ins Spiel: Was wäre, wenn aus der Herausforderung eine Bereicherung und aus dem „Weder-Noch“ eine gut aufgebaute Bildungssprache würde? Dazu müsste im Klassenzimmer zunächst Raum für alle Sprachen geschaffen werden.
Müssen Lehrerinnen und Lehrer alles verstehen? Die Sprachen nicht... die individuellen Situationen schon. Mehrsprachige Materialien wecken das Interesse an Sprachvergleichen und tragen zu einem allgemeinen Sprachverständnis bei (nicht alle Sprachen haben Artikel, das Verb steht nicht unbedingt in einer festen Position, Verbformen können Einmaligkeit oder Regelmäßigkeit ausdrücken und vieles mehr). KI-Tools können dabei eine wichtige Unterstützung sein: Wenn das Konzept in einer anderen Sprache verstanden wurde, findet sich schnell eine deutsche Übersetzung! Mehrsprachige Schülerinnen und Schüler erfahren so Wertschätzung und Anerkennung ihrer Sprachkompetenz - die richtige Basis und Motivation für das Erlernen der deutschen Sprache!
Das ÖSZ unterstützt Lehrpersonen bei der Umsetzung von Translanguaging-Aktivitäten durch folgende Angebote:
- die ÖSZ-Moodle-Plattform, die mit neuen Materialien laufend erweitert wird
- kurze Erklär-Videos zur Frage Was bedeutet Translanguaging? und zu FAQs von Lehrpersonen zum Thema „Translanguaging“
- ein ausführlicher Text zum Translanguaging-Konzept von Corinna Widhalm und Doris Pokitsch
- Unterrichtsbeispiele (z.B. „Mehrsprachige Slam Poetry“ für den Deutschunterricht)
Alle Informationen finden Sie auf der ÖSZ-Website: Translanguaging im mehrsprachigen Kontext
Quellen:
https://proceedings.hpsg.xyz/article/view/707